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Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1989-3-a
Formatangabe: Bericht
Link: Volltext
Verfasst von: Roggenkamp, Viola
In: EMMA
Jahr: 1989
Heft: 3
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Frauen im Jazz

Der Saal ist gerammelt voll. Die Menschen sitzen und stehen dicht gedrängt. Überwiegend Frauen. Das fällt auf, denn bei einem FreeJazz-Konzert sind Männer oft, viel zu oft in der Überzahl; im Publikum wie auf der Bühne. Heute abend ist das genau umgekehrt: im Publikum und auf der Bühne. Denn angesagt ist die "Canaille", eine Frauen-Jazz-Band. Am Piano: Irene Schweizer. Nicht jede Frau ist heute Abend aus Leidenschaft für diese Art von Musik in das Konzert gekommen, sondern eher aus Leidenschaft für diese Art von Musikerinnen. Dass Frauen Jazz' singen, ja, aber dass sie auch Saxophon, Bass, Posaune und Schlagzeug spielen, das ist selbst elf Jahre vor der Wende ins zweite Jahrtausend zwar wahr, doch immer noch rar. An diesem Abend "Canaille" macht Free Jazz. Was das ist, Free Jazz? - Krach, Chaos, freies Spiel, Balancieren wider Takt, Rhythmus, Harmonie; mit Revolte und Inspiration. Kraft und Konzentration, Leidenschaft und Disziplin. Vor einem Konzert mit diesen Jazz-Musikerinnen weiß kein Mensch, was es geben wird, weder die Musikerinnen, noch die Zuhörerinnen. Und das sind sie: Irene Schweizer aus der Schweiz, untersetzt, drahtig, in Hose und T-Shirt, sehr kurzes silbergraues Haar, Nickelbrille, ernstes Gesicht, setzt sich an den Flügel, rückt die Klavierbank zurecht, streckt die muskulösen Arme aus und legt die Hände in den Schoß. Der Kopf ist spannungsvoll gesenkt. Sie ist unmittelbar vor dunkles Haar, aufmerksamer, ruhiger Gesichtsausdruck, bewegliche Gestalt; sie hebt ihren Bass aus seiner horizontalen Lage zu sich in die Höhe und setzt den Bogen an. Annemarie Roelofs, Holländerin, blond, Brille, Stupsnase, sommersprossig; sie steht an der Bühnenrampe, neigt den Rücken nach hinten und führt die Posaune zum Mund. Co Streiff, auch aus der Schweiz, zierlich, klein, strumpfenge Hosen, Lockenkopf; sie greift zum Saxophon und macht das Mundstück nass. Marilyn Mazur, amerikanische Perkussionistin aus Dänemark, tiefschwarzes, widerspenstiges Haar, schlankes Gesicht, gespannter Körper; sie sitzt breit, r wie zum Sprung auf Beute hinter ihrem Schlagzeug. Und Maggie Nicols, aus England, der Bühne, Kopf und Körper ruhen konzentriert auf Atemsäule, Zwerchfell und Flankenstütze.

Es ist still im Saal. Kein Husten. Kein Flüstern. Und in diese Stille hinein bricht in der nächsten Sekunde über die Zuhörenden der akustische Wahnwitz aus. Es gongt und schlägt und brummt und dröhnt und kreischt und pfeift und schmettert und hämmert und plärrt und schreit mit voller Kraft. Es ist, als wollten die sechs Frauen den Menschen im Saal erstmal das Gehirn zu den Ohren herausschmettern. Oder zumindest alles das aus dem Gehirn fortfegen, was mit herkömmlichen Vorstellungen von M-e-1-o-d-i-e, von ein/zwei/drei/vier, vom Tam-tadadadam-tamtam, von führender und begleitender Stimme zu tun hat.

Aus dem höllischen Lärm wächst einige Minuten später wie gereinigt und befreit die Stimme der Vokalistin hervor. Töne, wie kleine, kurze Fragen. Jetzt kommt Irene Schweizer von links. Ihre Finger harken über die Tasten, rauf und runter: Die Pianistin scheint erstmal das Ton- und Tastenmaterial durch- und aufzuräumen. Die Bassistin mischt sich ein mit nörgelnden Kurzkommentaren. Die Posaunistin zieht lange Züge wie lange Fäden durch den Tonteppich, das Saxophon düst röhrend dazwischen. Jetzt schäppert und klirrt, klingelt und glockt es aus dem unter Fachleuten sprichwörtlichen Schlagwerk-Raritätenkabinett der Perkussionistin Marilyn Mazur (sie sammelt, was die Welt zu bieten hat). Aus dem körperlichen Einsatz aller sechs Frauen entsteht ein schwankender Klangteppich, auf dem sich dennoch für eine Weile ausruhen lässt. Wie kommt eine Frau überhaupt dazu, Jazz zu machen? Und dazu noch eine Weiße? Fragen wir zum Beispiel Irene Schweizer. Als sie anfing, nach Gehör Klavier und Schlagzeug zu spielen - die Instrumente standen in dem Tanzsaal, den ihre Eltern samt Kneipe m Schaffhausen betrieben -, war sie zwölf Jahre alt und wusste nicht einmal, welche unter den Tasten das ,,c" war. Aber eines wusste sie schon damals genau: "Ich habe schon als Zwölfjährige gewusst, daß ich von Frauen angezogen war. Aber wie sollte ich das rausgeben von mir? Und da hab ich angefangen zu spielen und hab das alles in die Musik gegeben."

Das war zu Beginn der 50er Jahre. Eine Zeit, in der sich Europa von der Nazi-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg zu erholen begann. Eine Zeit, in der die Frauen aus der Welt der Erwerbstätigkeit wieder zurückgepfiffen wurden in Küche und Kinderzimmer. Eine Zeit, in der die USA den alten Kontinent mit Kaugummi und Jazz überzogen, Jazz gepresst auf zerbrechliche Schellackplatten. Eine Zeit, in der Außenseiterinnen Jazz hörten, sich schwarz kleideten und "Existentialistin" nannten. "Ich hab nix, keine Musikschule besucht, keinen Hochschulabschluss. Ein bisschen Bartok for children hab ich gelernt . Ich bin zu 90 Prozent Autodidaktin und hab erstmal den klassischen Mädchenweg gehen müssen: mit 20 Jahren Aupair in London, dann Sekretärin", erzählt Irene Schweizer, die berühmte Schweizer Jazz-Pianistin. Nicht nur in Europa, auch in den USA wird heute von ihr mit Hochachtung gesprochen: Sie steht mit an der Weltspitze im Jazz, besonders im Free Jazz. Ihre Erfindungsgabe im Spiel und in der Komposition für den europäischen Free Jazz setzt seit über zwei Jahrzehnten Maßstäbe.

Lassen wir eine der kritischsten Verehrerinnen wärmen, die konservative "Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Wenn im europäischen Jazz ein Klavier die Maske herunterreißt und sich als wohltemperiertes Schlagzeug zu erkennen gibt, wenn ein einziger Flügel zum freien Flug sich aufschwingt, dann ist Irene Schweizer im Spiel. Ihre Linke kann brachiale Macht ausüben, während ihre Rechte anmutige Pirouetten läuft, und umgekehrt. Handfest, handweich, handkantig: ihre Fingerfertigkeit wird mit allem fertig. "Ich muss greifen, das Instrument fühlen können." Jeder kann das sagen, nicht jeder macht derart Ernst damit, in diesem Jahr wird sie siebenundvierzig. Sie meint es schon lange ernst."

Als 17jährige hatte sie 1958 ihren ersten großen Auftritt im ,,Africana", dem legendären Züricher Jazz-Lokal, in dem sich Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre zunehmend schwarze Emigranten aus Südafrika trafen, darunter der weltberühmte Pianist und Komponist Dollar Brand, den Irene Schweizer musikalisch gern zitiert.

, ,Ich habe mir die Männer ausgesucht, mit denen ich spielen wollte'', sagt sie. Der Ton ihrer Stimme ist verhalten aber fest. Körperhaltung und Gesichtsausdruck vermitteln Kraft, auch Sturheit. Wer ihr näher kommt, begegnet ihrer Schüchternheit, auch ihrer Herzlichkeit und Gelassenheit.

Noch bis vor zehn Jahren war Irene sehr oft die einzige musizierende Frau in einer Band, im Züricher "Africana" ist sie auf der Bühne auch oft die einzige Weiße:

8. November 1986, Internationales Jazz-Festival Zürich. Auf der Bühne Irene Schweizer am Klavier und Louis Moholo am Schlagzeug. Der schwarze Südafrikaner lebt seit Beginn der 60er Jahre im Züricher Exil. Die Spannung im Saal ist zum Zerreißen. "Mit viel Zivilcourage, weil ohne Einverständnis der Veranstalter (Sponsoren waren auch drei Großbanken, Geschäftspartner Südafrikas), hatte Irene Schweizer Mitgliedern der ,Antiapartheid-Bewegung' und des .Südafrika-Komitees Amandia' erlaubt, zu ihr auf die Bühne zu kommen, um auf die aktuelle Südafrika-Situation hinzuweisen' ', berichtete die Zeitschrift "Jazz Podium" von diesem Tag. Im Saal Begeisterung wie Verärgerung. Ein Eklat scheint sich anzubahnen. Nachdem die Demonstranten die Bühne verlassen haben, spielen Schweizer und Moholo 90 Minuten im Duo. "Jazz Podium" über diesen Abend: "Bei kaum einem anderen Irene-Konzert kam das breite pianistische, improvisatorische und expressive Spektrum ihres Könnens so stark, impulsiv und energisch zur Geltung wie an diesem 8. November im brodelnden Züricher Volkshaus. Da ist das ganze Spannungsfeld moderner Jazzpianos spürbar, da gibt es Lyrisches, Besinnliches, Reflexionen, Anklänge und Zitate südafrikanischer Kwela- und Township-Musik. Vor allem aber bestimmen immer wieder explosive Improvisation-Acts und spontane Free-Music-Eruptionen die Szene, wie sie für Irene typisch sind und zu ihrem ganz eigenen Stil wurden." Weil Jazz wie keine andere Musik immer Ventil für Diskriminierte gewesen ist, sieht Irene Schweizer ihre Arbeit als Free Jazz-Musikerin eng verknüpft damit, dass sie lesbisch ist. Dieses große Bedürfnis nach der Freiheit, "lesbisch leben zu können", in einer Gesellschaft, die Homosexualität stigmatisiert, findet für sie ihren Ausdruck im Free Jazz.

Jazz war zuallererst schwarze Musik, allerdings nie nur von Männern, sondern immer auch von Frauen, die Musik der Sklavinnen vor allem in Amerika. Das begann vor über drei Jahrhunderten: Arbeitsrhythmus-Gesang, verschlüsselter Nachrichten-Gesang, Gebets-Gesang. New Orleans war im 19. Jahrhundert Hochburg des Voodoo-Kults, der in der Sklaverei nahezu ausschließlich die Sache der Frauen wurde. Sie leiteten Chöre, sie spielten sämtliche Schlagzeuge. Wenige Namen sind überliefert: Sanite, Dede, Marie Salope, Marie Laveau. Dass einige wenige weiße Südstaatlerinnen sich mit den schwarzen Voodoo-Frauen solidarisierten und deren Stärke suchten, war skandalös und wurde bestraf t.

1861 brach der Bürgerkrieg zwischen den Südstaaten und dem Norden aus. Und wenn auch vier Jahre später mit der Niederlage des Südens die Sklaverei offiziell verboten wurde, so bestand sie doch noch lange und setzt sich heute fort in einem unter der Regie- rung Reagan und jetzt Bush wachsenden Rassismus. Die erste schwarze Frau, die Mitte der Zwanziger Jahre im New York Palace auftrat, war die 1896 in ehester (Pennsylvania) geborene Ethel Waters. Sie hatte als Kind in Kirchen gesungen. Sie war mit 13 Jahren verheiratet worden und lief ein Jahr später weg, in den Norden.

Oder Alberta Hunter: 1895 in Memphis (Tennessee) geboren. Als 14jährige tauchte sie in Chicago unter, im Dago-Frank-Club, einem Bordell, in dem sie als Sängerin auftrat. Die dort arbeitenden Prostituierten nahmen Alberta unter ihren Schutz. Und sie machte Karriere als Blues-Sängerin, gemeinsam mit ihrer Freundin, der Pianistin Lovie Austin, die eine Band leitete und für Alberta komponierte, zum Beispiel den "Downhearted Blues". Zu dieser Clique gehörte auch die Pianistin und Komponistin Lilian Hardin-Armstrong, die als 22jährige 1925 bereits eine Band leitete, in der ihr damals noch unbekannter Ehemann hin und wieder auftreten durfte: Louis Armstrong.

In den Zwanziger Jahren waren in den USA wie im westlichen Europa Jazz-Bars, Jazz-Clubs und Cabaretts so zahlreich wie heutzutage Videotheken.

Die vielleicht bedeutendste Pianistin und Komponistin dieser Zeit war Mary Lou Williams (1910-81). Ihre Mutter war Kirchenpianistin. Mary Lou trat als sechsjähriges Wunderkind auf weißen Gesellschaftsparties auf und ernährte damit ihre Familie. Bevor noch eine Ehe für sie ar- rangiert werden konnte, lief sie von zuhause fort und schrieb Arrangements für Duke Elington und Benny Goodman. Mit 35 Jahren führte Mary Lou ihre erste größere Komposition, "Zodiac-Suite", mit den New Yorker Philharmonikern auf. Zwei Jahre später trat sie 1947 in der Carnegie Hall mit ihrer Frauenband auf. Es war eine Sensation und ein sensationeller Erfolg. (Nur wenige der Trio- und All-Star-Plattenaufnahmen, die Mary Lou ausschließlich mit Frauen einspielte, sind erhalten geblieben.)

Die Frauen hatten es unsagbar schwer, sich durchzusetzen, als Schwarze und als Frauen. Als Sängerinnen, aber auch als Musikerinnen waren sie nur dann willkommen, wenn sie dem männlichen Ideal von "weiblichem sexappeal" entsprachen - dem der schwarzen Kollegen auf der Bühne wie dem der weißen Männer im Publikum. Billie Holiday (1905-59), eine der legendärsten schwarzen Sängerinnen, musste sich für ihre Auftritte in schwarzen Bands mit Schminke oft dunkler machen. Das weiße Publikum erwartete es so. Trat sie mit weißen Jazz-Bands auf, musste sie, der Star des Abends, die Hintereingänge des schwarzen Personals benutzen.

In einem Gespräch mit der Buchautorin Sally Placksin ("American Women in Jazz", Wideview Books, New York) erzählt die Posaunistin Melba Listen über ihre Beziehungen in den 40er Jahren: "Ich gab mir alle Mühe, ganz normal zu leben, aber es klappte nicht besonders, und so trennten wir uns, und ich fing wieder an zu üben, machte bei Wochenend-Sessions mit, und die Jungs machten ihre Bemerkungen: ,Guck mal, da kommt Melba mit ihrer Posaune. Sie ist wieder allein."' Nach drei Ehen- "jedes mal versuchte ich nur Ehefrau zu sein" - kehrte sie für immer zu ihrer Posaune zurück und gelangte zu hohem Ansehen in der Branche wegen ihrer unglaublich erfindungsreichen Arrangierkunst. Beim "Women's Jazz Festival" in Kansas City 1979 trat sie - nach sechs Jahren Pause auf Jamaica - zum ersten mal mit ihrer Frauen-Gruppe "Melba Liston & Company" auf. Berufsmusikerin wurden viele Frauen, nicht allein als Sängerin oder Pianistin, sondern auch an so genannten Männer-Instrumenten. Nur einige, damals prominente Namen: Jane Sager, Swing-Trompeterin in allen legendären Frauenbands der 30er und 40er Jahre, auch den International Sweethearts of Rhythm, der Band von Rita Rio und Ada Leonard. Oder June Rotenberg, Bass; Bridget O'Flynn, Schlagzeug; Irene Kitchings, Billie-Holiday-Komponistin; Janice Robinson, Posaune; Jane Ira Bloom, Saxophon; Emily Remler, Gitarre und Carline Ray, Bass; Ernestine Davis, Trompete; und die Tenorsaxophonistin Betty Sattley Leeds und Margaret Backstrum. "Little Louis" wurde damals die Trompeterin Valaida Snow genannt. Es war die Zeit, in der die USA in den Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland eintraten.

Als der Krieg 1945 beendet war und die Soldaten heimkehrten, wurden viele Jazz-Musikerinnen aus den Bands wieder vertrieben. So auch die in Harlem, New York, aufgewachsene Ella Fitzgerald, die mit 17 Jahren als Vokalistin in der Big Band Chick Webbs engagiert wurde und nach dessen Tod als 21jährige diese Big Band einige Jahre leitete - bis die Jungs wieder heimkehrten. In dem besiegten Deutschland, das in den zwölf Jahren der Nazi-Diktatur von der künstlerischen Entwicklung rundum nichts mitbekommen hatte, traten, inspiriert durch die amerikanischen Besatzungssoldaten, in Jazz-Clubs Cateriffla Valente (damals anerkannte Jazz-Sängerin) und Inge Brandenburg auf. Jutta Hipp, Leipziger Jazz-Pianistin, leitete Combos, floh aber dann vor dem aufkommenden 50er-Jahre-Mief in die USA (wo wiederum gerade die Kommunisten-Hatz ihren Höhepunkt erreicht hatte). Dort wurde die weiße Jazz-Sängerin Sheila Jordan des öfteren von der Polizei verhaftet, weil sie in schwarzen Bands auftrat. Frauenbands gab es nicht mehr. Der Gedanke daran hatte geradezu etwas Obszönes. Und wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen gelang es den nachkommenden jungen Frauen auch im Jazz nicht mehr an das anzuknüpfen, was bereits gewonnen war. Größtenteils aus Unkenntnis über ihre Geschichte, denn die älteren Zeitgenossinnen schwiegen. So hatte jede Einzelkämpferin zunächst das todsichere Gefühl, bestimmt ganz allein zu stehen: in den USA die Pianistin und Komponistin Carla Bley genauso wie die Japanerin Toshiko Akiyoshi (Pianistin und Band-leader), die Polin Urszula Dudziak (Vokalistin) oder Irene Schweizer in Zürich, die mit Traditional Jazz anfing und seit Ende der 50er Jahre die europäische Entwicklung hin zum Free Jazz mitmachte und mitbestimmte. 1976 gab Irene Schweizer ihr erstes Solokonzert.

,, 97 Prozent der Jazz-Musiker in der Bundesrepublik sind männlich; über den Anteil der Instrumentalistinnen an den verbliebenen drei Prozent lässt sich nichts Genaues sagen. Er wird vermutlich unter ein Prozent liegen", resümierte 1983 die bundesdeutsche Jazz-Trompeterin Iris Timmermann. Sie gehört zu der Frauen-Jazz-Band "reichlich weiblich", die im November 1984 bei einem Jazz-Meeting in Worpswede von 15 Frauen gegründet wurde. Dass Frauen gerade im Jazz so unterrepräsentiert sind, "steht im krassen Widerspruch zu dem Anspruch, den der Jazz gern postuliert", schreibt sie in ihrer Arbeit "Frauen im Jazz". Als im Herbst 1979 während der langweiligen Berliner Jazztage im Quartier Latin die Free Music Produktion im Rahmen ihres Anti-Programms, dem Total Music Meeting, die "Feminist Improvising Group'' (FIG) ankündigte, war dies in der Free Jazz-Chronik ein Tag, von dem noch heute geredet wird. Die Frauen, die auf der Bühne standen, waren dem Publikum einzeln bestens bekannt: Irene Schweizer (Piano und Schlagzeug), Maggie Nicols (Vokal), Lindsay Cooper (Saxophon und Fagott), Georgie Born (Cello und Baßgitarre) und Sally Potter (Vokal und Saxophon). Nur - gemeinsam spielend, als Frauen-Jazz-Band, hatte noch niemand sie gehört.

Überhaupt war eine Frauenband irgendwie unerhört. Dass damit an die in 30 Jahren verschüttete Tradition schwarzer Jazz-Frauen angeknüpft wurde, war niemandem gegenwärtig. "Wir fünf waren jede für sich immer die einzige Frau in der Band gewesen, und wir hatten alle die Nase voll", erinnert sich Irene Schweizer. Das Publikum in dieser Berliner Herbstnacht jedenfalls geriet völlig außer sich. Bei den Jazz-Männern "gab es danach Stunk" (Schweizer). FIG - im Programm umgeben von elitären und esoterischen Free Jazzern - hatte es verstanden, den männlichen Hochleistungs-Jazz an die Wand zu spielen. Kritiker Christian Rentsch anderntags hingerissen in "Die Neue": , ,Die Motivationen, aus denen ihre Musik entspringt, wurden aus den szenischen Darstellungen ersichtlich, die Spiellust, der Plausch, die Spontaneität der Einfälle wurden sichtbar - und damit nachvollziehbar. Musik im Werden zu verfolgen aber macht sie verständlich, auch wenn oder gerade weil sie vom Sockel des ,Kunstwerks' geholt wird."

Dass es gerade Frauen waren, die auf Leistungsschau und Konkurrenzgehabe verzichteten, die sich an Instrumente setzten, die sie nicht "beherrschten", sondern bespielten, das war 1979 kein Zufall: Frauen waren im Kommen. Ein Jahr später kam auch Modern Jazz-Papst Michael Naura nicht umhin, die "Feminist Improvising Group" zu seinem Hamburger NDR-Jazz-workshop einzuladen. Irene Schweizer damals: "Wir wollen möglichst viele Frauen ansprechen und sie anregen, selbst Musik zu machen. Fünf Jahre später, 1985, lud die Hamburger Frauenwoche das Trio Irene Schweizer, Annemarie Roelofs (Geige und Posaune) und Joelle Leandre (Baß) ein.

Im Jahr darauf fand es dann endlich statt: das "1. Internationale Frauen-Jazz-Festival für improvisierte Musik" in Frankfurt. Vom 8. bis 11. April spielten 15 Jazz-Musikerinnen aus sieben Ländern. Vier Tage lang mussten immer wieder viel zu viele Zuhörerinnen weggeschickt werden, weil der Jazzkeller und die Arena in Niederursel auseinander zu brechen drohten. 1986 erhielt die FIG, die sich inzwischen zur EWIG ("European Women Improvising Group") entwickelt hat (in verkürzter Besetzung und mit dem DDR-Schlagzeuger Günter Sommer unter dem Namen Quintett-"taktlos"), beim international bekannten Jazz-Festival von Moers erste internationale Anerkennung. Ja höchste Anerkennung. Die FAZ jubelte: "Man zögert nicht zu sagen - eine Sternstunde frei improvisierter Musik. Die Zuhörer mit endlosen Ovationen fassungslos, gerührt, ja glücklich wie die Akteure , die sich in den Armen liegen nach der Magie eines solchen Prozesses spontaner Interaktion sich anziehender und wieder wegdriftender Klangpartikel."

Und nach dem Schweizer Canaille-Festival 1986 bekannte der Züricher "Tagesanzeiger": "Warum nicht einfach sagen, dass dieses Canaille-Festival eines der spannendsten Züricher Jazzereignisse der letzten Jahre gewesen ist?" Muss noch gesagt werden, wer hinter "Canaille" steckt? 15 Frauen, unter ihnen Irene Schweizer, Annemarie Roelofs, Joelle Leandre, die Perkussionistin Marilyn Mazur, Co Streiff und Flora St. Loup, eine mit komödiantischem Talent begabte Vokalistin. Kein Mangel an Anerkennung, an Lob, aber Mangel an Auftrittsmöglichkeiten für Frauen-Bands. Zum Beispiel "F", eine der ganz wenigen Frauen-Modern-Jazz-Bands in der Bundesrepublik, hat jetzt eine neue Platte herausgegeben , ,, Schwarzwaldmädel' '. Aber wann und wo konnte frau "F" hören oder sehen? Die Kölnerinnen haben soeben den mit 10.000 Mark dotierten Langener Jazz-Preis 1988 erhalten!

Und Irene Schweizer arbeitet seit 1975 hauptberuflich als Jazz-Musikerin. Im Schnitt hat sie rund 50 Konzerte pro Jahr - über 90 Prozent davon als einzige Frau unter Männern.

Fürchten Männer die Konkurrenz? Sind Frauen die besseren Jazz-Musikerinnen? Sie sind jedenfalls nicht dogmatisch, was eine gute Voraussetzung für guten Jazz ist. Die Männer, die auch in dieser Branche das Sagen haben, sowohl im Platten-Geschäft wie im Konzert-Agenturbereich, haben inzwischen begriffen, was ihnen die Frauen noch voraushaben: Bei Free Jazz zum Beispiel: Das absolut freie Spiel. Hier ist alles erlaubt. Dazu fällt den Jazz-Männern meist Aggression und Gewalt ein. Oft spielen sie gegeneinander, wie isolierte Platzhirsche. Leistungsdruck und Konkurrenzkampf herrschen auch beim Musizieren im Free-Jazz-Konzert vor. Bei den Frauen ist das anders. Sie sind auch im Gegeneinander kommunikativ. Woran das liegt? Man könnte jetzt von Sozialisation reden. Aber es gibt noch eine Erklärung: Frauen werden diskriminiert, und Jazz ist traditionell die musikalische Ausdrucksmöglichkeit diskriminierter Menschen. Der qualitative Unterschied, der unverändert zwischen dem schwarzen und dem weißen Jazz präsent ist, hat ähnliche Ursachen wie der Unterschied, den es beim Free Jazz zwischen weiblichem und männlichem Jazz gibt.

Das Hamburger Konzert geht dem Ende zu: Auf der Bühne Maggie Nicols, Joelle Leandre, Annemarie Roelfs, Marilyn Mazur, Co Streiff. Alle gucken auf Irene Schweizer. Die hat gerade ihr Solo. Ein für sie typisches Solo: Sie erhebt sich, beugt sich in den offenen Flügel und schlägt gegen den schwarzen Holzrahmen. Der stöhnt auf. Sie legt Papierschnitzelchen auf einzelne Saiten, zupft dem Instrument das Eingeweide und ist selbst ganz Ohr. Der mächtige Flügel zirpt wie ein Heuschreckchen, klagt und zwirselt, wimmssört und säuiiiinfzt. Papierfetzen fliegen hoch; die Vibration der Saiten. Bis eben noch im Gesicht den neugierigen Ernst der Chirurgin, strahlt Irene Schweizer nun wie ein Kind. Dass wie keine andere Musikart Free Jazz in sich nicht festzuhalten ist und immer wieder neu entsteht - das ist gerade auch für Frauen eine Befreiung von dem Irrtum, dass Unterordnung beunruhigend oder gar zerstörerisch sein muss. Sie kann eben auch mitreißend oder schöpferisch sein. .

VIOLA ROGGENKAMP
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EMMA (1989)3
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