Artikel

Frauen und Erzählkunst

Verfasst von: Woolf, Virginia info
in: EMMA
1989 , Heft: 10 , 50-53 S.

Weitere Informationen

Einrichtung: FrauenMediaTurm | Köln
Signatur: Z-Ü107:1989-10-a
Formatangabe: Essay; Textauszug
Link: Volltext
Verfasst von: Woolf, Virginia info
In: EMMA
Jahr: 1989
Heft: 10
ISSN: 0721-9741
Sprache: Nicht einzuordnen
Beschreibung:
Der Titel dieses Artikels läßt sich auf zwei Arten lesen; er kann sich auf Frauen beziehen und die Romane, die sie schreiben; oder auf Frauen und die Romane, die über sie geschrieben werden. Der Doppelsinn ist beabsichtigt, denn wo es um Frauen als Schriftstellerinnen geht, ist so viel Elastizität wie möglich wünschenswert; man muß sich Spielraum lassen, um neben ihrem Werk noch andere Dinge zu erörtern, so sehr ist dieses Werk von Umständen beeinflußt worden, die nicht das geringste mit Kunst zu tun haben.

Schon die flüchtigste Untersuchung der literarischen Arbeit von Frauen wirft eine Unzahl von Fragen auf. Warum, fragen wir uns sofort, gab es vor dem achtzehnten Jahrhundert kein kontinuierliches Schreiben von Frauen? Warum schrieben sie von da an fast ebenso gewohnheitsmäßig wie Männer und brachten im Laufe ihres Schreibens, eines um das andere, einige der Meisterwerke englischer Erzählkunst hervor? Und warum nahm ihre Kunst damals und warum nimmt ihre Kunst auch heute noch überwiegend die erzählende Form an? Von unseren Vätern wissen wir immer irgendein Faktum, irgend etwas, wodurch sie sich hervortaten. Sie waren Soldaten oder Seeleute; sie bekleideten jenes Amt oder machten jenes Gesetz. Aber von unseren Müttern, unseren Großmüttern, unseren Urgroßmüttern - was bleibt? Nichts als eine Überlieferung. Eine war schön; eine war rothaarig; eine wurde von einer Königin geküßt. Wir wissen nichts von ihnen außer ihren Namen und den Daten ihrer Heirat und der Zahl der Kinder, die sie gebaren.

Wollen wir also wissen, warum zu irgendeiner bestimmten Zeit Frauen dies oder jenes taten, warum sie nichts schrieben, warum sie andererseits Meisterwerke schrieben, so ist das äußerst schwer festzustellen. Die außergewöhnliche Frau ist von der gewöhnlichen Frau abhängig. Erst wenn wir wissen, wie die Lebensumstände der durchschnittlichen Frau beschaffen waren - die Zahl ihrer Kinder, ob sie eigenes Geld hatte, ob sie ein Zimmer für sich hatte, ob sie Hilfe hatte beim Großziehen der Familie, ob sie Bedienstete hatte, ob ein Teil der Hausarbeit ihre Aufgabe war - erst wenn wir die Lebensweise und die Lebenserfahrung ermessen können, die der gewöhnlichen Frau ermöglicht wurden, können wir eine Erklärung finden für den Erfolg oder das Scheitern der außergewöhnlichen Frau als Autorin. Merkwürdige Räume des Schweigens scheinen eine Periode der Aktivität von der anderen zu scheiden. Da war Sappho und eine kleine Gruppe von Frauen, die sechshundert Jahre vor Christi Geburt alle auf einer griechischen Insel Gedichte schrieben. Sie verstummen. Dann ums Jahrtausend finden wir eine gewisse Hofdame, die Dame Murasaki, die in Japan einen sehr langen und schönen Roman schreibt. Aber im sechzehnten Jahrhundert in England, als die Dramatiker und Poeten am tätigsten waren, blieben die Frauen stumm. Die elisabethanische Literatur ist ausschließlich männlich. Dann am Ende des achtzehnten Jahrhunderts und zu Beginn des neunzehnten finden wir wieder Frauen, die schreiben, ungewöhnlich häufig und erfolgreich schreiben, diesmal in England.

Natürlich waren vorwiegend Gesetz und Sitte verantwortlich für dies merkwürdige Ein-und Aussetzen des Redens und Schweigens. Mußte eine Frau - wie im fünfzehnten Jahrhundert - gewärtig sein, geschlagen und im Zimmer herumgestoßen zu werden, wenn sie den Mann der elterlichen Wahl nicht nahm, dann war die geistige Atmosphäre zur Schaffung von Kunstwerken nicht günstig. Wurde sie ohne ihre Einwilligung mit einem Mann verheiratet, der daraufhin ihr Herr und Meister war, "so weit zumindest, wie Gesetz und Sitte ihn dazu machen konnten", wie zur Zeit der Stuarts, dann ist es wahrscheinlich, daß sie zum Schreiben wenig Zeit hatte, geschweige denn Ermutigung bekam. Die ungeheure Wirkung von Umgebung und Suggestion auf das Gemüt beginnen wir in unserem psychoanalytischen Zeitalter eben erst zu begreifen. Ebenso beginnen wir mit Hilfe von Memoiren und Briefen zu verstehen, welche abnorme Anstrengung es erfordert, ein Kunstwerk hervorzubringen, und welcher Abschirmung und Stärkung das Gemüt des Künstlers bedarf.

So ist deutlich, daß die erstaunliche Eruption erzählender Literatur zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sich in England durch zahllose leichte Veränderungen in der Gesetzgebung, in Sitten und Gebräuchen ankündigte. Und die Frauen des neunzehnten Jahrhunderts hatten etwas Muße; sie hatten etwas Bildung. Es war für Frauen der mittleren und höheren Schichten nicht mehr die Ausnahme, sich ihren Ehemann selbst zu wählen. Und es spricht für sich, daß von den vier großen Romanautorinnen - Jane Austen, Emily Bronte, Charlotte Bronte und George Eliot - nicht eine ein Kind hatte und zwei unverheiratet waren.

Indessen ist deutlich, daß der auf dem Schreiben liegende Bann zwar gewichen war, ein erheblicher Druck aber, wie es scheint, noch weiterwirkte, daß Frauen Romane zu schreiben hätten. Keine vier Frauen können einander an Genie und Charakter wenigerähnlich gewesen sein als diese vier. Jane Austen kann nichts mit George Eliot gemein gehabt haben; George Eliot war das gerade Gegenteil von Emily Bronte. Doch alle waren für die gleiche Profession ausgebildet; sie alle schrieben, als sie schrieben, Romane.

Erzählende Literatur war - und ist es noch heute - für eine Frau am leichtesten zu schreiben. Und es ist nicht schwer, den Grund dafür zu finden. Der Roman ist die am wenigsten konzentrierte Kunstform. Ein Roman kann leichter in Angriff genommen und beiseite gelegt werden als ein Drama oder ein Gedicht. George Eliot ließ ihre Arbeit liegen, um ihren Vater zu pflegen. Charlotte Bronte legte die Feder hin, um die Augen aus den Kartoffeln zuschneiden. Und da sie von Menschen umgeben im gemeinsamen Wohnzimmer lebte, war eine Frau geschult, ihren Verstand in der Beobachtung und im Studium von Charakteren zu gebrauchen. Sie wurde zur Romanautorin herangebildet, nicht zur Dichterin.

Selbst im neunzehnten Jahrhundert lebte eine Frau beinahe ausschließlich in ihrem Zuhause und in ihren Empfindungen. Und jene Romane des neunzehnten Jahrhunderts, so bemerkenswert sie waren, wurden zutiefst von der Tatsache beeinflußt, daß die Frauen, die sie schrieben, durch ihr Geschlecht von bestimmten Formen der Erfahrung ausgeschlossen blieben. Daß die Erfahrung einen großen Einfluß auf erzählende Literatur hat, ist unbestreitbar. Der wichtigste Teil von Conrads Romanen zum Beispiel würde zunichte, wäre es ihm unmöglich gewesen, zur See zu fahren. Man entferne alles, was Tolstoi vom Krieg wußte als Soldat, vom Leben und der Gesellschaft als reicher junger Mann, dessen Erziehung ihm den Zugang zu Erfahrungen aller Art eröffnete, und Krieg und Frieden wäre um unvorstellbar vieles ärmer. Doch "Pride and Prejudice", "Wuthering Heights", "Villete" und "Middlemarch" wurden von Frauen geschrieben, denen zwangsweise alle Erfahrungen vorenthalten wurde außer derjenigen, die in einem bürgerlichen Salon der Mittelschicht zu haben war. Keine unmittelbare Erfahrung des Krieges oder der Seefahrt, der Politik oder des Geschäftslebens war ihnen möglich. Selbst ihr Gefühlsleben war streng geregelt durch Sitte und Gesetz. Als George Eliot es wagte, mit Mr. Lewes zusammenzuleben, ohne seine Frau zu sein, zog sie sich in vorstädtische Abgeschiedenheit zurück, was zwangsläufig die denkbar schlimmste Auswirkung auf ihre Arbeit hatte. Sie schrieb, wenn Menschen, die sie besuchen wollten, nicht von sich aus anfragten, ob sie kommen könnten, lade sie sie nicht ein. Zur gleichen Zeit lebte Tolstoi auf der anderen Seite Europas ein freies Leben als Soldat, mit Männern und Frauen aller Schichten, wofür niemand ihn verurteilte und woraus seine Romane einen Großteil ihrer erstaunlichen Kraft und Vielfalt schöpften.

Aber die Romane von Frauen wurden nicht nur durch den notwendig engen Erfahrungsbereich der Autorinnen beeinflußt. Sie zeigten, zumindest im neunzehnten Jahrhundert, noch ein anderes Merkmal, das sich auf das Geschlecht der Autorin zurückführen läßt. In ,,Middlemarch" und "Jane Eyre" ist uns nicht nur der Charakter des Schriftstellers bewußt, so wie uns Charles Dickens' Charakter bewußt ist, sondern wir sind uns der Anwesenheit einer Frau bewußt - hier spricht jemand, der sich über die Behandlung des eigenen Geschlechts empört und dessen Rechte verteidigt. Das bringt in die Werke von Frauen ein Element, das in denen eines Mannes gänzlich fehlt, vorausgesetzt allerdings, daß er nicht gerade ein Arbeiter oder ein Neger oder jemand sonst ist, der sich aus anderem Grunde ausgeschlossen weiß. Das führt zu Verzerrung und ist häufig die Ursache von Schwächen. Der Wunsch, eine eigene Sache zu verfechten oder eine Figur zum Sprachrohr eines persönlichen Grolls oder Ärgernisses zu machen, hat immer eine mißliche Wirkung, so als wäre der Punkt, auf den die Aufmerksamkeit des Lesers gelenkt wird, nicht einer, sondern ein doppelter. Das Genie von Jane Austen und Emily Bronte ist nie überzeugender als in ihrem Vermögen, solche Forderungen und Appelle zu ignorieren und dem eigenen Weg zufolgen, unbeirrt von Hohn und Tadel. Ein sehr heiteres oder sehr starkes Gemüt aber war nötig, der Versuchung zum Zorn zu widerstehen. Was in der einen oder anderen Form an Spott und Tadel und Minderwertigkeitserklärungen über Frauen niederging, die eine Kunst ausübten, rief ganz natürlich solche Reaktionen hervor. Man sieht die Wirkung in Charlotte Brontes Empörung, in George Eliots Resignation. Man findet sie wieder und wieder im Werk der weniger bedeutenden Autorinnen - in ihrer Wahl des Gegenstands, in ihrem unnatürlichen Geltungsdrang, ihrer unnatürlichen Fügsamkeit.

Überdies fließt beinah unbewußt etwas wie Unaufrichtigkeit ein. Sie machen sich autoritätsfromm eine Anschauung zu eigen. Das geschaute Bild wird zu maskulin, oder es wird zu feminin; es verliert seine vollkommene Integrität und damit seine wesentlichste Eigenschaft als Kunstwerk. Der große Wandel, der sich im literarischen Werk von Frauen langsam vollzieht, ist, so will es scheinen, ein Wandel in der Einstellung. Die schreibende Frau ist nicht mehr verbittert. Sie ist nicht mehr zornig. Sie plädiert und protestiert nicht mehr, wenn sie schreibt. Wir nähern uns der Zeit, falls sie noch nicht erreicht ist, da ihr Werk nahezu oder gänzlich frei von fremdem Einfluß ist, der es trübt. Sie wird imstande sein, sich ohne äußere Ablenkung auf das von ihr geschaute Bild zu konzentrieren. Die innere Distanz, einst nur dem Genie, der Originalität erreichbar, kommt erst jetzt für gewöhnliche Frauen in Reichweite. Heute ist deshalb der durchschnittliche Roman einer Frau weit unverfälschter und weit interessanter als vor hundert oder selbst vor fünfzig Jahren.

Doch trifft noch immer zu, daß eine Frau, bevor sie genau so schreiben kann, wie sie möchte, viele Schwierigkeiten vor sich sieht. Zunächst gibt es die technische Schwierigkeit - dem Anschein nach so einfach, in Wirklichkeit so verzwickt-, daß allein schon die Form des Satzes ihr nicht angemessen ist. Es ist ein von Männern gebauter Satz; zu lose, zu schwer, zu gravitätisch für weiblichen Gebrauch. Doch in einem Roman, der so weite Strecken zurücklegt, muß ein ganz gewöhnlicher und normaler Satztypus gefunden werden, der den Leser leicht und natürlich von einem Ende des Buches zum anderen trägt. Und den muß eine Frau sich selber bauen, indem sie den geltenden Satztypus abändert und umformt, bis sie so schreibt, daß der Satz die natürliche Form ihres Gedankes annimmt, ohne ihn einzuzwängen oder zu verzerren.

Aber schließlich ist das nur ein Mittel zum Zweck, und Zweck und Ziel sind nach wie vor nur zu erreichen, wenn eine Frau den Mut hat, Widerstände zu überwinden, und die Entschlossenheit, sich selber treu zu sein. Denn ein Roman ist schließlich eine Aussage über tausend verschiedene Gegenstände - menschliche, natürliche, göttliche; er ist ein Versuch, sie aufeinander zu beziehen. In jedem Roman, der etwas taugt, werden diese verschiedenen Elemente durch die Kraft des vom Autor geschauten Bildes am gehörigen Ort gehalten. Doch sie haben noch eine andere Ordnung, die Ordnung, die ihnen von der Konvention auferlegt ist. Und da die Männer die Geschmacksrichter dieser Konvention sind, da sie im Leben eine Wertordnung statuiert haben, sind auch in der erzählenden Literatur, die ja weithin auf dem Leben beruht, diese Werte in sehr erheblichem Ausmaß vorherrschend.

Es ist jedoch wahrscheinlich, daß im Leben wie in der Kunst die Werte einer Frau nicht die Werte eines Mannes sind. Wenn also eine Frau daran geht, einen Roman zu schreiben, wird sie finden, daß sie fortwährend den Wunsch hat, die geltenden Werte zuändern - bedeutungsvoll zu machen, was einem Mann unbedeutend erscheint, und bedeutungslos, was ihm wichtig ist. Und dafür wird man sie natürlich kritisieren; denn der Kritiker anderen Geschlechts wird ehrlich verblüfft und überrascht sein von einem Versuch, die gängige Wertordnung zu ändern, und wird darin nicht bloß eine Verschiedenheit der Auffassung sehen, sondern eine Auffassung, die beschränkt ist oder trivial oder sentimental, weil sie sich von der seinen unterscheidet.

Aber auch hier sind Frauen im Begriff, weniger von Meinungen abhängig zu sein. Sie beginnen ihr eigenes Wertgefühl zu respektieren. Und aus diesem Grunde beginnen sich im Stoff ihrer Romane gewisse Veränderungen abzuzeichnen. Sie interessieren sich, wie es scheint, weniger für sich selbst; andererseits interessieren sie sich für andere Frauen mehr. Im frühen neunzehnten Jahrhundert waren die Romane der Frauen weithin autobiographisch. Eins der Motive, die sie zum Schreiben bewegten, war der Wunsch, die eigenen Leiden zu offenbaren, die eigene Sache zu Gehör zu bringen. Nun, da dieser Wunsch nicht länger so dringend ist, beginnen sie das eigene Geschlecht zu erforschen, beginnen über Frauen zu schreiben, wie noch nie über Frauen geschrieben worden ist; denn natürlich waren Frauen in der Literatur bis vor kurzem die Schöpfung von Männern.

Hier sind wiederum Schwierigkeiten zu überwinden, denn Frauen, falls man verallgemeinern darf, unterwerfen sich der Beobachtung nicht nur weniger bereitwillig als Männer, sondern ihr Leben wird auch weit weniger durch die gewöhnlichen Lebensprozesse auf die Probe gestellt und geprüft. Oft bleibt vom Tag einer Frau nichts Greifbares zurück. Das Essen, das gekocht wurde, ist aufgegessen; die Kinder, die großgezogen wurden, sind hinaus in die Welt gegangen. Wo liegt der Akzent? Welches ist der springende Punkt, an den der Romancier sich halten kann? Das ist schwer zu sagen, ihr Leben hat einen anonymen Charakter, der im höchsten Grade verwirrend und ungreifbar ist. Zum ersten Mal ist der Anfang gemacht, dieses dunkle Land in der Erzählkunst zu erforschen; und im gleichen Moment hat eine Frau auch den Wandel im Gemütszustand und in den Gewohnheiten der Frauen zu registrieren, den die Öffnung der Berufe eingeleitet hat. Sie hat zu beobachten, wie das Leben der Frauen aufhört, unterirdisch zu verlaufen; sie hat wahrzunehmen, welche neuen Farben und Schattierungen sich nun, da sie der äußeren Welt ausgesetzt sind, in ihnen zeigen. Versuchte man also, das erzählende Werk von Frauen im gegenwärtigen Moment zu kennzeichnen, würde man sagen, daß es mutig ist; es ist aufrichtig; es hält sich eng an das, was Frauen empfinden. Es ist frei von Bitterkeit. Es pocht nicht auf seine Feminität. Zugleich aber ist das Buch einer Frau nicht so geschrieben, wie ein Mann es schreiben würde. Diese Qualitäten sind viel verbreiteter als früher, und sie geben selbst zweit- und drittrangigen Werken den Wert der Wahrheit und den Reiz der Aufrichtigkeit.

Das alte System, das Frauen dazu verdammte, die Dinge im schiefen Winkel durch die Augen oder die Interessen des Gatten oder des Bruders zu betrachten, ist den unmittelbaren und praktischen Interessen eines Menschen gewichen, der selbst handeln muß und nicht bloß die Handlungen anderer beeinflussen darf. So wird ihre Aufmerksamkeit vom persönlichen Zentrum, das sie vordem ausschließlich beschäftigte, abgezogen und auf Unpersönliches gelenkt; und ihre Romane werde ganz natürlich der Gesellschaft gegenüber kritischer und den Einzelschicksalen gegenüber weniger analytisch.

Es ist zu erwarten, daß das Amt der Stechfliege im Staate, das bisher ein männliches Vorrecht war, nun auch von Frauen ausgeübt wird. Ihre Romane werden von sozialen Mißständen und Heilmitteln handeln. Ihre Männer und Frauen werden nicht allein in ihren Gefühlsbeziehungen gesehen werden, sondern wie sie in Gruppen, Schichten und Völkern zusammenhängen und aufeinanderprallen. Das ist ein Wandel von einiger Bedeutung. Doch es gibt einen anderen, der interessanter ist für diejenigen, denen der Schmetterling lieber ist als die Stechfliege - will sagen, die den Künstler dem Reformer vorziehen. Die größere Unpersönlichkeit ihres Lebens wird den poetischen Geist wecken, und das Poetische ist es, worin die weibliche Erzählkunst noch am schwächsten ist. Von ihm geführt, werden sie weniger von Fakten in Anspruch genommen und nicht länger damit zufrieden sein, mit erstaunlicher Akribie die winzigen Einzelheiten zu vermerken, die in ihr eigenes Blickfeld fallen. Über die persönlichen und politischen Beziehungen hinaus werden sie die größeren Fragen ins Auge fassen, die der Dichter zu lösen sucht - unsere Bestimmung und den Sinn des Lebens.

Natürlich ist das Fundament der poetischen Haltung weithin auf materielle Dinge gebaut. Sie ist abhängig von Muße und etwas Geld und der Möglichkeit, die Geld und Muße bringen, unpersönlich und leidenschaftslos zu beobachten. Wenn sie Geld und Muße haben, werden sich Frauen ganz von selbst, mehr als bisher möglich war, mit dem literarischen Handwerk befassen. Sie werden ausgiebiger und subtiler vom Instrumentarium des Schreibens Gebrauch machen. Ihre Technik wird kühner und reicher werden.

In der Vergangenheit lag die Besonderheit des weiblichen Schreibens oft in der unvergleichlichen Spontaneität - sie schrieben, wie Amsel oder Drossel singen. Es war ungelernt; es kam aus dem Herzen. Doch es war auch, und viel häufiger, plauderhaft und geschwätzig - bloßes Gerede, überm Papier vergossen und in Klecksen und Pfützen zum Trocknen stehengelassen. In der Zukunft, Zeit und Bücher vorausgesetzt und etwas Raum im Haus für sich selbst, wird für Frauen, wie für Männer, die Literatur eine Kunst werden, die studiert sein will. Das Talent der Frauen wird geschult und gestärkt werden. Der Roman wird nicht länger der Abladeplatz für die persönlichen Gefühle sein. Mehr als gegenwärtig wird er ein Kunstwerk werden wie andere auch und in seinen Grenzen und Möglichkeiten erforscht werden. So werden, wenn wir prophezeien dürfen, in künftigen Zeiten Frauen weniger Romane schreiben, aber bessere Romane; und nicht nur Romane, sondern Lyrik und Kritik und Geschichte. Doch hierin schaut man gewiß in die Ferne zu jenem goldenen, vielleicht fabelhaften Zeitalter, in dem Frauen haben werden, was ihnen so lange versagt blieb - Muße und Geld und ein Zimmer für sich.
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EMMA (1989)10
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